Taub und dennoch hörend: Leben mit dem Cochlear

Implantat


Sebastian Spreizer ist taub - kann aber hören und sprechen. Als einem der ersten Kindern in Deutschland wurde ihm das Cochlear Implant eingesetzt. Seitdem führt er ein völlig neues Leben – inklusive Musikhören und Studium.

Im Alter von einem Jahr erkrankte der heute 26-Jährige an Hirnhautentzündung. Starke Antibiotika führten zum Verlust des Gehörs. Vier Jahre später wurde Spreizer ein Cochlear Implantat (CI) ins Gehirn eingesetzt, dank dessen der Müllheimer wieder auf einem Ohr hören und somit auch sprechen lernte. Heute lebt er wie andere hörende Menschen. Spreizer studiert in Freiburg Neurobiologie, will nächstes Jahr nach Kanada gehen, um sein Englisch zu verbessern, spielt Volleyball, geht mit Freunden aus.

BZ: Was assoziieren Sie mit dem Wort Lärm?
Sebastian Spreizer: Ein großes Durcheinander, Unerkennbares. Und für mich auch auf Dauer anstrengend, da es schwer ist, Leute zu verstehen. Aber ich kann davor flüchten und meinen Verstärker ausschalten. So kann ich auch ungestört in Cafés lernen. Und wenn es mir in der Disco zu laut ist, schalte ich es einfach leiser.

BZ: Hören Sie gerne Musik?
Spreizer: Ja, absolut. Am besten Rockmusik mit einer etwas höheren Frauenstimme, damit sich das gut von den Bässen unterscheidet. Das kann ich besser differenzieren. Meinen Verstärker kann ich übrigens direkt mit einem MP3-Player verbinden.

BZ: Sind Sie lärmempfindlicher als hörende Menschen?
Spreizer: Im Gegenteil, trotz des Verstärkers bin ich unempfindlicher. Das Problem ist, ich kann nicht differenzieren, welche Geräusche wichtig oder unwichtig sind. Ich nehme alles gleichzeitig und alles gleich stark wahr. Das Gerät kann das nicht filtern und deswegen lese ich bei Gesprächen auch von den Lippen ab.

BZ: Können Sie sich daran erinnern, wie es war, wieder hören zu können?
Spreizer: Das war für mich ein Schock. Es war schmerzend und ziemlich laut. Ich habe alle Geräusche gleichzeitig gehört. Das Gehirn muss das erstmal verarbeiten, damit man erkennt, was zum Beispiel die Klimaanlage ist oder dass das ein Auto ist, was draußen vorbeifährt.

BZ: Sie waren auf einer Schule für hörgeschädigte Kinder. Trugen Ihre Mitschüler auch ein Implantat?
Spreizer: Das war ein schwieriges Thema. Implantate waren bei den Gehörlosen überhaupt nicht willkommen. Sie fühlten sich ihrer Behinderung beraubt und denken, dass sie zum Sprechen gezwungen werden. Und deswegen haben sie das CI gar nicht akzeptiert. Wir Implantat-Träger waren in der Schule die Außenseiter. Die Spaltung war damals sehr groß. Aber heutzutage ist das Implantat anerkannt.

BZ: Sie waren Außenseiter bei den Gehörlosen – und wie war es in der Welt der Hörenden?
Spreizer: Kontakt zu Hörenden hatte ich nur über meine Familie und über die Freunde meines Bruders. Vorwiegend war ich in der gehörlosen Welt. Jetzt durch das Studium bin ich allerdings in beiden Welten zuhause.

BZ: In welcher Welt fühlen Sie sich wohler?
Spreizer: Es ist angenehm, mit Freunden zusammen zu sein, die die gleiche Behinderung haben. Sie reden langsamer oder verwenden Gebärden- und Körpersprache. Die Hörenden sprechen meistens ziemlich schnell und undeutlich, da muss ich oft nachfragen, weil ich was nicht verstanden habe. Ich muss dann viel konzentrierter sein. Aber ich bin in beiden Welten glücklich.

BZ: Wie war der Übergang von der Schule zur Uni?
Spreizer: Der Beginn an der Uni war problematisch. Mir hat vorher der Bezug zur hörenden Welt gefehlt. In meiner Schule waren wir wie auf einer Insel, geschützt vor der Außenwelt. Es fiel mir sehr schwer, an der Uni neue Freundschaften mit Hörenden zu knüpfen. Ich war gar nicht glücklich und habe das Studium unterbrochen. Während eines Praktikums auf Sylt habe ich dann gelernt, mit den Hörenden umzugehen. Seitdem klappt es mit Studium und Freundschaften.

BZ: Wie kommen Sie in Vorlesungen zurecht?
Spreizer: Ich sitze immer in der ersten Reihe, damit ich alles mitkriege. Ich stelle meinen Verstärker so ein, dass ich den Professor besser höre und weniger die Studenten um mich herum. Außerdem kann ich auch auf Distanz sehr gut von den Lippen ablesen.

BZ: Aber wie funktioniert das Lippenlesen, wenn Ihr Gegenüber Dialekt spricht?
Spreizer: Das kenne ich von meiner Familie, die reden Alemannisch. In der Schule haben wir Hochdeutsch gelernt. Deswegen ist es für mich in Norddeutschland schon einfacher, die Leute zu verstehen.

BZ: Verwenden Sie Gebärdensprache?
Spreizer: Die verwende ich unbewusst. Sobald ich mich mit Gehörlosen unterhalte, gebärde ich automatisch. Das mag ich. Im Gespräch mit Hörenden lasse ich die Hände einfach unten, das ist dann auch unbewusst. Hörende passen ihre Sprache ja auch ihrem Gegenüber an.

BZ: Was mögen Sie lieber – das "normale" Sprechen oder Gebärdensprache?
Spreizer: Reden mit Gebärden- und Körpersprache macht mir sehr viel Spaß. Das ist ausdrucksvoller, so wirke ich lebendiger.

BZ: Wird Gebärdensprache durch medizinische Entwicklungen wie das CI aussterben?
Spreizer: Nein, auf keinen Fall. Denn Gebärdensprache ist die Muttersprache der Gehörlosen. Und seine Muttersprache braucht man. Meine hörenden Freunde finden Gebärdensprache auch toll, sie sind immer ganz wild drauf, dass ich ihnen Gebärden beibringe.

BZ: Ist Gebärdensprache auch Ihre Muttersprache?
Spreizer: Meine Muttersprache ist die Sprache, in der ich träume. Und das ist Deutsch.

BZ: Können Sie eigentlich telefonieren oder schreiben Sie SMS?
Spreizer: Telefonieren funktioniert, aber ich schreibe lieber SMS. Beim Handy nehme ich das Brummen und Knacken der Funkübertragung wahr, so weiß ich früher als andere, wenn eine SMS ankommt.

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